Fällt das Schlagwort „Krafttraining“, dann denken die Meisten wohl bildlich an einen Gewichtheber und nicht an Krafttraining mit dem eigenen Körpergewicht. Eine Wahrnehmung, die sicherlich nicht grundlegend falsch ist, aber auch damit zu tun hat, wie Krafttraining typischerweise beworben und angeboten wird. Dies liegt nicht zuletzt daran, da Krafttraining mit Maschinen und Hanteln quantitativ sehr fassbar strukturiert ist (so viel Gewicht, so viele Wiederholungen etc.) und insofern leicht nachvollziehbare Resultate erzielt.
Krafttraining mit dem eigenen Körpergewicht: Status Quo
Das ist für die Gym-Betreiber natürlich spannender, da sie ihre Dienstleistung an den Mann und die Frau bringen müssen. Dazu gehören natürlich auch die Ressourcen, die ein solches Krafttraining abverlangt (Geräte und Gewichte), was abermals Argumente für das Gym als Dienstleister liefert. Wer hat all das Zeug schon daheim?
Nicht zuletzt deswegen hat Krafttraining mit dem eigenen Körpergewicht ein Imageproblem. Es wird bisweilen ungerechtfertigterweise als bloße Aufwärmroutine oder als Cardio-Ersatz wahrgenommen. Das Potenzial als Krafttraining wird oft unterschätzt. Dabei bietet es als ebensolches zahlreiche Vorteile und ist mindestens eine sinnvolle Ergänzung zu dem auf Gewichten und Maschinen basierenden Krafttraining! Es ist fast überall durchführbar. Ein Gym und massive Maschinen sind nicht nötig, gleichwohl gewisse Hilfsmittel, wie Pull-Up bars oder entsprechende Provisorien, nicht schaden.
Es mag unterschiedlich Gründe geben, warum Du nicht in ein Gym gehen kannst oder willst. Training mit dem eigenen Körpergewicht kann bis zu einem hohen Grad ein ganzes Gym ersetzen, da es für jede Muskelgruppe Übungen durch freie Bewegung gibt. Somit ist Dein eigenes Bewegungsspektrum das Gym, das Du immer um Dich hast. Und die Mitgliedschaft ist kostenlos!
Ein Fundus an Möglichkeiten und eine solide Basis
Training mit dem eigenen Körpergewicht kann sowohl eine sinnvolle „Hausaufgabe“, in Ergänzung zu den Workouts im Gym, als auch ein eigenständiges, voll beanspruchendes Programm sein. Viele klassische, erprobte Übungen stehen zur Verfügung. Die Möglichkeiten, was Zielsetzung und Intensität anbelangt, sind enorm vielseitig. Denn Widerstand ist Widerstand! Du musst nur wissen, wie Du ihn mit dem eigenen Körpergewicht durch Haltung und Position etablieren und skalieren kannst. Training mit dem eigenen Körpergewicht ist quasi das Schweizer Offiziersmesser des Krafttrainings. Da ist alles dabei! Richtig angewandt, kann es sowohl einsteigerfreundlich als auch sehr fordernd sein.
Übungen und deren bildliche Darstellung, oft genug in Videoform, kannst Du zuhauf im Netz finden. Und oftmals bietet Krafttraining mit dem eigenen Körpergewicht ohnehin den sinnvollsten Einstieg. Anstatt Dich gegebenenfalls als Anfänger darum zu sorgen, wo welcher Finger beim konzentrierten Bizeps Curl hinzeigen muss, gilt es erst einmal, Deine Grundfitness und Grundstärke zu bestimmen und zu steigern. Dann kannst Du auch mit Gewichten später viel mehr bewirken! Denn tatsächlich sind völlig Untrainierte, die jetzt wild entschlossen etwas „tun müssen“, oft besonders gefährdet. Und zwar durch sich selbst! Denn sie beißen nicht selten aus reiner Entschlossenheit und deplatziertem Ehrgeiz mehr ab, als sie kauen können. Krafttraining – insbesondere mit freien Gewichten – stellt eine sehr konzentrierte Kraftanstrengung dar. Wer das nicht gewohnt ist, kann sich schnell verletzen und dann ist es mit dem Training erst mal vorbei, ehe es überhaupt angefangen hat!
Flexibler Schwierigkeitsgrad
Wer jetzt aber glaubt, dass Training mit dem eigenen Körpergewicht demgemäß nur eine lästige Pflichtübung für Anfänger ist, der irrt gewaltig. Richtig angewandt, werdet Ihr am nächsten Tag Muskelkater an Stellen spüren, von denen Ihr noch nicht mal wusstet, dass Ihr sie habt! Selbst mit leichten Adaptionen könnt Ihr manche Übungen wesentlich anspruchsvoller gestalten. Und das, obwohl die Bewegungsabläufe im Kern dieselben bleiben. Da dient bereits der klassische Klimmzug als Beispiel. Wer noch nie einen Klimmzug gemacht hat, wird sehr schnell feststellen, dass da als Anfänger nicht viele Wiederholungen drin sind. Griffstärke, Balance, Cardio und (je nach Ausführung) weite Teile der Schulter-, Rücken-, Brust- und Armmuskulatur werden hier wirklich beansprucht!
Jedoch könnt Ihr den Klimmzug sowohl leichter als auch schwerer machen. Und das nicht nur, indem Ihr die angestrebten Wiederholungen erhöht. Absolute Anfänger können beispielsweise mogeln, indem sie auf einen Hocker oder Ähnliches steigen und sich erst dann frei in die Luft begeben, wenn sie sich vom Klimmzug „herablassen“. Sie machen also quasi nur die halbe Übung – den Weg nach unten. Das kann bei Untrainierten jedoch schon voll und ganz ausreichen, um tags darauf einen Muskelkater aus der Hölle heraufzubeschwören! Absolut sinnvoll und ausreichend fordernd, wenn Dinge wie Grundstärke in den entsprechenden Muskelgruppen sowie Griffstärke erst noch entwickelt werden müssen.
Natürlich könnt Ihr den Schwierigkeitsgrad auch nach oben drehen. Und zwar indem Ihr beim Klimmzug den Griff einfach weiter auseinander ansetzt. Je weiter Ihr den Griff fasst, desto schwieriger wird tendenziell der Klimmzug. Insbesondere weil er die “Hilfsmuskeln“, die in unserem Alltag am liebsten auf der faulen Haut liegen, dann stärker beansprucht. Zumal das Eine schließt das Andere ja nicht aus: Viele Übungen mit dem Körpergewicht können mit Gewichten (meist in Form von Hantel-Scheiben) „geboostet“ werden. So auch beim Klimmzug. Ein weiteres Beispiel hierfür kann aber auch ein simpler Crunch für die Abdominal-Muskulatur sein, bei dem Ihr Euch einfach eine Hantel-Scheibe hinter dem Kopf oder auf der Brust fixiert.
Natürliche Bewegungsabläufe – Der Körper als Einheit
Krafttraining mit dem eigenen Körpergewicht bietet viele sehr organische Kraftübungen, die umliegende Hilfsmuskeln rekrutieren. Oftmals so, wie es der Körper bei Kraftanstrengungen im Alltag auch tun würde. Es ist also eine sehr organische Form des Krafttrainings mit hoher funktionaler Applikation. Viele Übungen mit Gewichten (und vor allem mit Maschinen) wirken da konzentrischer. Was, je nach Trainingsziel, ja nicht falsch sein muss. Aber wer generelle Fitness, möglicherweise gar mit rehabilitativen Aspekten, und Alltagstauglichkeit als höchste Priorität sieht, der kann mit dem eigenen Körpergewicht bestens arbeiten. Ferner bringen viele entsprechende Übungen eine Stärkung von Muskeln, die andernfalls gerne vernachlässigt werden und erhöhen so die Kraft insgesamt.
Übungen mit dem freien Körpergewicht sind somit sehr gut, um die „Grundstärke“ und Haltung zu verbessern. Die meisten dieser Übungen erfordern und trainieren eine solide Basis bzw. Stabilität, da Gleichgewicht oft von zentraler Bedeutung ist. Rumpfstärke, Balance aber auch Beweglichkeit sind in Summe Ausdruck einer gesunden Stärke. Auch fehlerhafte Körperhaltungen lassen sich auf diesem Wege gut beheben – vorausgesetzt Anwender wissen, was sie tun und wieso. Ein Prinzip, mit dem jeder Physiotherapeut arbeitet!
Ferner ist Krafttraining mit dem eigenen Körpergewicht sicherer für die Gelenke, da die natürliche Bewegungsreichweite die Grenzen setzt und Ihr Euch nicht so leicht überstrecken könnt wie beim Training mit Gewichten. Überdies habt Ihr es mit freien Bewegungen zu tun, wohingegen Hanteltraining (dort vor allem das Langhanteltraining) gewisse Positionen erzwingt. Wenn Euch da Puste ausgeht und kein Spotter oder geistesgegenwärtiger Sportsfreund in der Nähe ist, dann wird es ganz schnell eng!
No Nonsens Training!
Ein weiterer Aspekt, den ich als aktiver Sportler selbst an dieser Form des Trainings schätze: Man wird viele von den Macho-Aspekten los, die Krafttraining häufig umgeben und mit denen man sich teilweise selbst im Weg steht. Klar, einen dicken Deadlift hinzulegen, ist schon geil und man schaut sich gerne verstohlen im Gym um, ob es ja auch jeder mitbekommen hat. Insbesondere die Blonde da drüben.
Intensives, fortgeschrittenes Training mit dem eigenen Körpergewicht, lässt Dir für solche Allüren keine Gelegenheit, da es extremen Fokus abverlangt. Du musst Dich auf Deine Haltung, Deine Balance und korrekte Bewegungsabläufe konzentrieren, um alles aus Dir und diesen Übungen herauszuholen! Es sind absolute No Nonsens Übungen im allerbesten Sinne!
Damit will ich gewiss nicht das Training mit Hanteln oder mit Geräten verteufeln. Diese Trainingsformen sind aus den Bereichen, wo es um rohe, konzentrierte Power und Body Building geht, nicht wegzudenken. Doch selbst solche Athleten wissen in aller Regel um den Wert von Übungen mit dem freien Körpergewicht. Insbesondere weil solche Übungen eine gute Grundlage schaffen, um sich später an die schwierigeren Übungen mit Langhanteln zu wagen, die ebenfalls eine lupenreine Haltung erfordern. Schon alleine, um sich nicht ernsthaft zu verletzen! Beispiele hierfür wären abermals der Deadlift und natürlich der Squat.
Übungen mit dem Körpergewicht als Bestandteil der Fitness Routine
Training mit Deinem Körpergewicht bietet Dir nicht nur einen sinnvollen Einstieg ins Krafttraining, sondern eine sehr organische Progression, da Dein Körpergewicht natürlich (bis zu einem gewissen Grad) mit dem Zuwachs an Kraft ansteigt. Muskeln sind eine der schwersten Gewebearten im menschlichen Körper. Werden wir stärker, wachsen diese und machen uns entsprechend schwerer. Das kann bei populären Übungen mit Gewichten, wie beispielsweise dem Bankdrücken, tatsächlich einen verfälschenden Effekt haben! Denn dadurch, dass wir breiter werden, bekommen wir natürlich auch einen besseren Hebel bei manchen Übungen. So auch beim Bankdrücken! Bei Übungen mit dem eigenen Körpergewicht hingegen skaliert die Belastung mit unserem Zuwachs an Muskulatur mit. Echte und vermeintliche Fortschritte werden hier also schnell voneinander geschieden.
Natürlich verbessert sich nicht nur die Stärke. Durch die ausgeprägte neuromuskuläre Aktivität, die bei den koordinierten und anspruchsvollen Bewegungsabläufen dieser Trainingsform gegeben ist, verbessert sich die gesamte Koordination mit der Zeit erheblich. Das sieht man beispielsweise bei Leuten, die schwerpunktmäßig und langfristig mit dem eigenen Körpergewicht trainieren. Diese sind oft regelrecht zu akrobatischen Leistungen in der Lage, weil sie eine herausragende Körperbeherrschung entwickeln. Natürlich ist noch kein Meister vom Himmel gefallen. So weit zu kommen, bedingt jahrelanges Training!
Auch hier gilt: Genug ist genug und zu viel ist zu viel
Wenn wir schon von Meistern reden: Einige körperbasierende Übungen sind definitiv nur etwas für wirklich Fortgeschrittene. Insbesondere, wenn sie viel Rumpfstärke und ein hohes Maß an Koordination abverlangen. Wer dies unterschätzt, könnte sein Verletzungsrisiko ohne Not erhöhen. Die intrinsischen Vorteile des Krafttrainings mit dem eigenen Körpergewicht befreien Euch also nicht davon, dass Ihr realistisch und bescheiden bleiben müsst. Trainiert immer nur gemäß Eures eigenen Fitnesslevels! Nur so kommt Ihr weiter und bleibt gesund. Möglichkeiten zu Adaptionen bietet das Training mit dem Körpergewicht definitiv zur Genüge. Da ist für jede Kragenweite etwas dabei.
Abstriche müsst Ihr allein bei den Beinen machen, sofern es Euch primär um Kraft- und Muskelzuwachs geht. Dieser lässt sich tendenziell nämlich tatsächlich besser mit der Zuhilfenahme von Gewichten und/oder Maschinen trainieren. Einfach weil es so große Muskelgruppen sind, die es ohnehin gewohnt sind, zeitlebens unser Körpergewicht zu tragen. Hier lohnt es sich also, von außen nachzuhelfen und Euren Beinen etwas zusätzliche Arbeit in Form von externer Gewichtung aufzuhalsen.